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Jungsein heißt nicht automatisch unbeschwert sein. Das bestätigt eine aktuelle Trendstudie zum Heranwachsen im Dauerkrisenmodus. Und das weiß Christoph Kahle von Coach e.V., der täglich mit Kindern und Jugendlichen im Austausch ist. Was sie am meisten belastet und wo sie Unterstützung benötigen.

Pandemie, Klimakrise, Inflation und Krieg: Wie fühlt es sich, momentan jung zu sein? Was machen die Krisen unserer Zeit mit den 14- bis 29-Jährigen? Dieser Frage geht die aktuelle TrendstudieJugend in Deutschland: Sommer 2022″ nach. Die Antworten sind besorgniserregend. Die drei am häufigsten berichteten Belastungen der 14- bis 29-Jährigen sind Stress (45%), Antriebslosigkeit (35%) und Erschöpfung (32%). 27% und damit fast jede*r dritte Teilnehmende berichten von einer Depression. 7% hatten schon einmal Suizidgedanken. 

Aber wie können wir Heranwachsende unterstützen und stärker in wichtige Entscheidungen einbinden? Das haben wir Christoph Kahle gefragt. Er ist stellvertretender Geschäftsführer der Kölner Initiative Coach e.V. für Bildung und Integration junger Migrant*innen. 

Die Trendstudie “Jugend in Deutschland: Sommer 2022” zeigt, dass das Aufwachsen der 14- bis 29-Jährigen stark von Angst und Stress bestimmt ist. Erlebt ihr das so auch bei Coach e.V.?

Christoph Kahle: Wir erleben, dass Angst und Stress vor allem seit Beginn der Pandemie zugenommen haben. Es handelt sich dabei vor allem um die Zunahme sozialer Ängste, von Depression, suizidaler Gedanken sowievon Zukunftsängsten. Die Themen Zukunftsangst und Leistungsdruck spielen schon lange eine Rolle. Wir hören häufig Aussagen, wie “Ich will keine Zeit verlieren.” Dies wird als Grund für die Ablehnung von sinnvollen Schulwechseln, FSJ oder Praktika genannt. Dadurch versagen sich Jugendliche leider Raum für neue Erfahrungen, Entwicklung, Besinnung und Vorbereitung guter Entscheidungen.

Ihr seid in engem Kontakt mit Kindern und Jugendlichen. Was sind die größten Krisen, mit denen sie aktuell zu kämpfen haben?

Christoph Kahle: Die Coronapandemie hat die weitaus größten Einschränkungen für das Leben der Jugendlichen gebracht. Sie hatten Angst um ihre eigene Gesundheit und die naher Angehöriger, sie haben mehr Todesfälle bewältigen müssen. Die Jugendlichen wurden stark in ihrer Bewegung und in sozialen Aktivitäten eingeschränkt. Sie mussten sich an viele zusätzliche Regelungen halten, die ihnen teilweise nicht ehrlich erklärt wurden und die nicht zuerst sie selbst im Blick hatten, sondern die oft vor allem wirtschaftlichen Interessen folgten.

Was hätte in Bezug auf Kinder und Jugendliche während der Corona-Pandemie anders laufen sollen?

Christoph Kahle: Es ist leicht, es im Nachhinein besser zu wissen, aber ich würde trotzdem zwei Dinge benennen: 1. Mehr Freiheiten für Jugendliche und Familien, über die gewünschte Form des Unterrichts mitzubestimmen (Distanzunterricht, Wechselunterricht mit kleineren Lerngruppen). 2. Mehr Anstrengungen, (Freizeit-)Angebote für Jugendliche offen zu halten.

Wie können wir im Non-Profit-Bereich Heranwachsende stärken und begleiten – in dem Wissen, dass wir die großen Krisen für sie nicht lösen können?

Christoph Kahle: Es ist nur eine Erweiterung der Erkenntnis, dass wir Jugendliche nicht vor Fehlern bewahren können und sie ihre eigenen Erfahrungen machen müssen. Wir müssen Jugendliche stärken, ihr eigenes Leben zu führen, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen und Herausforderungen selbst zu bewältigen. Dennoch müssen wir Erwachsenen unserer Verantwortung gerecht werden und zur Lösung der großen Krisen (nicht zur weiteren Verschärfung) beitragen und diese nicht den Jüngeren aufbürden.

Ihr schafft mit Coach e.V. Perspektiven für ein erfolgreiches Berufs- und Privatleben. Welche eurer Angebote finden am meisten Zulauf, wenn es um den Umgang mit Ängsten und Stress geht?

Christoph Kahle: Die Angebote, die ganz konkrete Abhilfe im Jetzt anbieten: Lernförderung und Hilfen beim Formulieren von Bewerbungen.

Die Trendstudie zeigt, dass die junge Generation politisch mitwirken möchte, es ihr aber schwer gemacht wird. Was ist deine Empfehlung, um Heranwachsende stärker zu beteiligen?

Christoph Kahle: Eine konkrete Maßnahme ist die Abschaffung des Mindestwahlalters. Dies würde Kinder und Jugendliche zu einer wichtigen Zielgruppe für Politiker*innen machen und deren Handeln vermutlich beeinflussen. Ansonsten ist Mitbestimmung jeden Tag in jedem Bereich des Lebens anzustreben. Hierbei geht es für uns Erwachsene um ein ständiges Reflektieren, ob in Schule, Verein, Firma oder Familie.

Auch mit dem deutschen Bildungssystem sind viele Teilnehmende der Studie unzufrieden. Wo liegen deiner Meinung nach die Schwachstellen und wie könnte man sie beheben?

Christoph Kahle: Eine große Schwachstelle ist das dreigliedrige Schulsystem und Exklusion. Beides schafft Stigmatisierung und Beschämung. Gemeinsames Lernen, Durchlässigkeit in beide Richtungen und individuellere Förderung wären von Nöten.

Gibt es eine*n Jugendliche*n, der oder die dich im Umgang mit Krisen in letzter Zeit besonders beeindruckt hat?

Christoph Kahle: Einer meiner Jugendlichen hat in der letzten Zeit aufgrund schlechter Leistungen die Schule wechseln und aufgrund einer familiären Krise Wohnung und Wohnort verlassen müssen. Er hat es trotzdem geschafft, an der neuen Schule anzukommen und seine Noten zu verbessern. Außerdem konnte er die familiäre Krise gut bewältigen, trotz seines jungen Alters über seine Probleme sprechen und hilfreich reflektieren. Dies hat nichts mit den großen globalen Krisen zu tun, zeigt mir aber mal wieder, zu was Jugendliche alles in der Lage sind, selbst wenn wir ihnen das nicht zutrauen.

Christoph Kahle war kürzlich zu Gast in unserer virtuellen Kaffeepause “Jugend im Dauerkrisenmodus”, veranstaltet mit freundlicher Unterstützung der TotalEnergies Foundation.

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